Monika Hohlmeier rückte das ERASMUS-Programm der Europäischen Union in den Mittelpunkt, das nach dem Willen des Europäischen Parlaments in der nächsten Periode mit 50 Milliarden Euro ausgestattet werden soll. Neue Elemente wie "DiscoverEU" sollen es künftig möglich machen, dass ein Bildungsaufenthalt in mehreren Mitgliedsstaaten bezuschusst werden kann. Hohlmeier zielte dabei auf die Sprach- und Kulturkompetenz junger Europäerinnen und Europäer: Sie sollten "Offenheit lernen, anstatt sich vor der Globalisierung zu fürchten." In der Arbeitswelt seien - nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung - zunehmend Flexibilität und Offenheit für die Lebenswelten anderer Gesellschaften und ihrer Kulturen gefragt.
Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Mägdefrau eröffnete ihren Vortrag mit der Feststellung, dass ein europäisches Staatsbürgerbewusstsein noch nicht in der europäischen Bevölkerung verankert sei. Um das zu ändern bedürfe es der gemeinsamen Entwicklung einer europäischen Metaerzählung, die als Orientierungsangebot jenseits des Nationalen dienen könne. "Gute Bildung macht nicht gehorsam, sondern selbständig, urteilsfähig und widerspenstig. Seit der Aufklärung wird in Europa Bildung als individuelle Persönlichkeitsbildung, als Dialektik von Reproduktion des Bestehenden bei Möglichkeit seiner Überwindung verstanden", so Mägdefrau. Antworten auf die Fragen von heute müssten morgen bereits anders gegeben werden. Eine Kombination aus beruflicher Qualifizierung und allgemeiner Bildung durch Wissenschaft sei deshalb nicht nur an Elite- oder Exzellenzuniversitäten, sondern auch und gerade in der universitären Lehrerbildung notwendig.
Die abschließende Diskussion beider Rednerinnen moderierte Dr. Karin E. Oechslein, Direktorin des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung. "Bildung allein reicht nicht", so Hohlmeiers Position. Es ginge auch um die Fähigkeit, den Blick nach außen zu öffnen und eine objektive Wirklichkeit neben einer subjektiven Wahrheit zuzulassen. Daher sei ERASMUS so wichtig. Prof. Dr. Mägdefrau sprach interkulturellen Erfahrungen einen bedeutenderen Effekt zu als einer Wertevermittlung im Unterricht an Schulen und Universitäten. "Dabei muss man auch Erfahrungsräume für diejenigen, die zuhause bleiben, bieten und diese unterschiedliche Perspektivität in Lehrveranstaltungen einbringen", so Mägdefrau. Sie sieht den Grund für die gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung in der Angst vor Veränderung: "Früher hieß die Interkulturelle Pädagogik 'Ausländerpädagogik' und implizierte, dass sich die Menschen aus dem Ausland einseitig anzupassen hätten. Es müssen sich aber immer beide Seiten verändern."
Mägdefrau plädiert vor diesem Hintergrund für eine Lehrerbildung, die Zeitfenster zum Reisen und für Auslandsaufenthalte lässt. "65 Prozent der Schulanfängerinnen und -anfänger werden einmal in Berufen arbeiten, die es heute noch gar nicht gibt." In einer Gesellschaft, in der Jugendliche zwar den Umgang mit Medien perfekt beherrschen würden, allerdings bei der Personalisierung ihres Handys die dahinterliegenden Algorithmen nicht verstehen, sei Bildung im Sinne von kritischem Hinterfragen und kompetentem Umgang mit den neuen Medien wichtig. Als problematisch könnte sich der zögerliche Netzausbau erweisen, welcher möglicherweise zu einer neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft führt - eine Spaltung in diejenigen mit und diejenigen ohne schnelles Internet.
Das Format "Wissenschaft trifft Praxis" stellt zu einem zukunftsweisenden Thema jeweils eine Stimme aus der Praxis und aus der Wissenschaft vor und lässt beide in Diskussion treten.