Dr. Katrin Geneuss, Prof. Dr. Ralf Ludwig
Berücksichtigung der Komplexität der Nachhaltigkeit - Slot 1 | 08.10.2024, 11.00 Uhr
Forschungsfragen:
1) Wie können Konzepte der wissenschaftlichen Szenarienentwicklung und -modellierung in schulische Lehr- und Lernarrangements übersetzt werden?
2) Welche Parallelen sind zwischen wissenschaftlicher Szenariomodellierung und spielerisch-narrativen Szenarientechniken im Unterricht zu ziehen?
3) Wie können Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Dynamiken und natürlichen Ressourcen analog und niederschwellig visualisiert werden?
4) Wie kann der schulischer Einsatz solcher Lernarrangements Kompetenzen fördern, die für das Verständnis wissenschaftlicher Szenarienmodellierung notwendig sind?
Inhalt des Beitrags:
Szenarien bieten die Möglichkeit, verschiedene Zukunftsentwicklungen strukturiert und
systematisch zu skizzieren. Dabei kann u.a. zwischen explorativen Szenarien – was wäre,
wenn? – und Szenarien zur Erreichung vorgegebener Ziele unterschieden werden. Zum
Beispiel: Wenn ein Fluss in Bayern renaturiert wird, welche Auswirkungen haben verschiedene
Renaturierungsmaßnahmen auf den Abfluss und die Wasserqualität? Wie reagieren Bauern
darauf? Wie das Ökosystem? Wie wird die Infrastruktur betroffen? Oder: Welches
Bildungssystem sichert eine nachhaltige Entwicklung? Welche Handlungstrajektorien können
eingesetzt und auf Effektivität und Effizienz getestet werden?
Sowohl in den Natur- wie auch in den Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften werden
mögliche zukünftige Entwicklungen über die Modellierung von Szenarien skizziert. Auch der
„Weltklimarat“ IPCC kontrastiert verschiedene Szenarien, diverse Kombinationen aus
sozioökonomischer Entwicklung und konsequentem Strahlungsantrieb, um die Folgen bestimmter Handlungsentscheidungen auf die klimatische Entwicklung zu visualisieren. Diese
Modellierungen sind komplex und es bedarf eines Portfolios an Kompetenzen, damit die
Zivilgesellschaft, die Politik-, Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschaftsgestaltenden sowie die
Forschenden Kausalketten, Plausibilitäten und Facettenvielfalt mitdenken. Gerade im Bereich
der Nachhaltigkeit, wie beispielsweise des Klimaschutzes, der Wasser- und
Nahrungsmittelsicherheit oder der Biodiversität und der ökosystemaren Funktionalität, ist
dieses Vorgehen hochaktuell. Um ein solches Kompetenzportfolio frühzeitig aufzubauen und
„Scenario Literacy“ zu entwickeln, plädieren wir für die didaktisierte Einführung von
Szenarionarrativen in schulische Lernumgebungen und stellen daher einen entsprechenden
spielerischen Zugang vor.
In diesem Beitrag wird „La Futura“ als Beispiel für Szenarienentwicklung mitsamt seinen
Einsatzbereichen und Potentialen dargestellt und seine Parallelen zu wissenschaftlicher
Szenarienmodellierung hervorgehoben. Der thematische Schwerpunkt ist der Umgang einer
fiktiven Gesellschaft mit dem Mangel und Überfluss an Ressourcen. „La Futura“ ist eine von
dem el mundo Team entwickelte analoge, interaktive Worldbuilding-Lernumgebung,
angelehnt an das Spiel „The Quiet Year/ Das stille Jahr“ von Buried without Ceremony. Es
handelt sich dabei um einen niederschwelligen, analogen Spielansatz, welcher in
Kleingruppen in einer Doppelstunde im Klassenzimmer durchgeführt werden kann.
Ausgangspunkt ist fiktionale Narrativ einer kleinen Gesellschaft, die auf der einsamen Insel
„La Futura“ mit bestimmten Ressourcen haushalten muss. Außer den als Download
verfügbaren Spielimpulsen werden lediglich Stifte, Papier und Würfel benötigt. Nach dem
Spiel wird in einer Kurzreflexion zuerst auf die verschiedenen Erfahrungen eingegangen.
Anschließend werden die kognitiven Lernziele thematisiert, z. B. a) die Abhängigkeit von
bestimmten Ressourcen und deren Interdependenzen, b) fachspezifische Lernziele, die das
Spiel curricular in den Fachunterricht einbetten (z. B. Sprache : Hör- und Sprechfähigkeiten;
Geschichte: Analogien zu bestimmten Epochen; Geographie: Landschaftsentwicklung,
Nutzung von Ressourcen; Mathematik: Berechnung von Wahrscheinlichkeiten).
Methodisch werden die Forschungsfragen in mehreren Iterationen, in welchen das Szenario
„La Futura“ als Lehr-Lernarrangement durchgeführt wird, beantwortet. Nach einem Design
Based Research Ansatz werden die Lehrenden ebenso wie die Lernenden sowohl in der
Wahrnehmung ihrer Spielerfahrungen als auch bezüglich der Wahrnehmung ihrer
Fähigkeiten, wissenschaftliche Szenarien in der Komplexität ihrer sozialen, ökologischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Dimensionen und deren wechselseitigen Abhängigkeiten zu
verstehen („Scenario-Literacy“), befragt. Daraufhin finden Modifikationen des Arrangements
statt, welche in weiteren Durchführungen implementiert werden. Bisher fanden drei solcher
Zyklen statt, weitere zwei sind im Verlauf des Jahres 2024 geplant.
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